Amputationen retten Leben – auch bei Ameisen
02.07.2024Im Notfall beißen Ameisen verletzte Gliedmaßen von Artgenossinnen ab, um deren Überleben zu sichern. Ob sie diesen radikalen Schritt gehen, hängt davon ab, wo sich die Wunde befindet.
Sie zeigen ein Verhalten, das bisher nur vom Menschen bekannt war: Die Florida-Holzameisen (Camponotus floridanus) amputieren vorsorglich Gliedmaßen, um das Leben verwundeter Artgenossinnen zu retten. Bei bestimmten Verletzungen an den Beinen beißen sie diese komplett ab.
Der rabiate Eingriff verhindert, dass sich lebensgefährliche Wundinfektionen im Körper der Ameisen ausbreiten. Die Erfolgsrate ist sehr gut: Rund 90 Prozent der amputierten Tiere überleben die Behandlung. Trotz des Verlust eines ihrer sechs Beine können sie danach ihre Aufgaben im Nest wieder im vollen Umfang übernehmen.
Überraschend: Amputiert wird nur bei verletztem Oberschenkel
Das berichtet eine Forschungsgruppe der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg und der Universität Lausanne im Journal Current Biology. Das Team um Dr. Erik Frank vom Würzburger Biozentrum und Dr. Laurent Keller aus Lausanne hat eine weitere verblüffende Beobachtung gemacht: Die Ameisen schreiten nur dann zur Amputation, wenn die Beinverletzungen am Oberschenkel liegen – egal ob die Wunden steril oder mit Bakterien infiziert sind.
Befinden sich die Wunden dagegen am Unterschenkel, wird niemals amputiert. Stattdessen treiben die Ameisen in solchen Fällen einen höheren Aufwand bei der Pflege der Verwundeten: Sie lecken die Wunden intensiv aus. Vermutlich säubern sie sie damit auf mechanischem Weg von Bakterien. Auch diese Therapie ist mit einer Überlebensrate von rund 75 Prozent relativ erfolgreich.
Aussichtslos: Amputation bei verletzten Unterschenkeln
Warum entfernen die Ameisen nicht auch die Beine von Artgenossinnen mit Unterschenkelverletzungen – schließlich könnte man annehmen, dass sich die Überlebensrate dadurch noch deutlich steigern ließe?
Um die Antwort zu finden, führten die Forschenden selbst Amputationen bei Ameisen mit verwundeten und bakteriell infizierten Unterschenkeln durch. Das Ergebnis fiel überraschend aus: Die Überlebensrate nach der Amputation lag bei nur 20 Prozent.
Weshalb das so ist, kann das Team plausibel erklären: Computertomographische Untersuchungen zeigten, dass im Oberschenkel der Ameisen viele Muskeln sitzen, deren Aktivität für die Zirkulation des „Ameisen-Blutes“ sorgt, der Hämolymphe. Ameisen besitzen kein zentral pumpendes Herz wie Menschen, sondern mehrere über den Körper verteilte Herzpumpen und Muskeln, die diese Funktion übernehmen.
„Verletzungen am Oberschenkel beeinträchtigen die Muskeln und behindern die Zirkulation“, sagt Erik Frank. Weil der Blutfluss gemindert ist, gelangen Bakterien nicht so schnell von der Wunde in den Körper. In diesem Fall lohnt sich die Amputation: Bei schnellem Handeln ist die Chance groß, dass der Körper noch frei von Bakterien ist.
Im Unterschenkel dagegen liegen keine Muskeln, die für die Zirkulation der Hämolymphe relevant sind. Ist er verwundet, dringen die Bakterien sehr schnell in den Körper vor. Das Zeitfenster für eine erfolgreiche Amputation ist dann eng, die Chance auf Rettung gering.
„Genau das scheinen die Ameisen zu ‚wissen‘, wenn man es vermenschlichend ausdrücken will“, sagt der Würzburger Biologe. „Unsere Studie belegt erstmals, dass auch Tiere im Zuge der Wundbehandlung prophylaktische Amputationen einsetzen. Und sie zeigt, dass die Ameisen die Behandlung an der Art der Verletzung ausrichten“, so Laurent Keller.
Gefährlich: Kämpfe gegen andere Ameisenvölker
Die in der Studie untersuchte Ameisenart Camponotus floridanus kommt im Südosten der USA vor. Die rotbraunen Tiere werden mit bis zu 1,5 Zentimeter Körperlänge relativ groß. Sie nisten in verrottendem Holz und verteidigen ihr Nest energisch gegen rivalisierende Ameisenvölker. Kommt es zu Kämpfen, besteht Verletzungsgefahr.
Warum das Team gerade diese Ameisen für die Studie ausgewählt hat? Weil sie keine Metapleuraldrüse besitzen. Mit dieser Drüse produzieren andere Ameisenarten ein antibiotisch wirksames Sekret, das sie auf infizierte Wunden auftragen. So kam die Frage auf, welche anderen Mittel Camponotus-Ameisen gegen Infektionen einsetzen. Dass es sich dabei um verletzungsspezifische Amputationen handelt, war eine große Überraschung.
Fraglich: Wie agieren in Deutschland heimische Ameisenarten?
Mit Verletzungen bei Ameisen und deren Reaktion darauf wird sich Erik Frank auch weiterhin befassen. Der Leiter einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Emmy-Noether-Gruppe bereitet zu diesem Thema aktuell eine Studie über Ameisenarten vor, die in Deutschland vorkommen.
Für seine Forschungen über die Wundversorgung bei Tieren zeichnete die Hector Fellow Academy Erik Frank im Januar 2024 mit einem Preis für junge Forschende aus, einem Hector Research Career Development Award, dotiert mit einer voll finanzierten Promotionsstelle und zusätzlichen 55.000 Euro. „Dieser Preis wird es meiner Gruppe ermöglichen, das Verhalten der sozialen Wundpflege bei Tieren weiter zu erforschen. Wir möchten damit untersuchen, wie Ameisen, die in einer engen Beziehung mit Akazienbäumen leben, die Wunden ihrer Wirtspflanzen heilen.“
Publikation
Wound-dependent leg amputations to combat infections in an ant society. Erik. T. Frank, Dany Buffat, Joanito Liberti, Lazzat Aibekova, Evan P. Economo, Laurent Keller. Current Biology, 2. Juli 2024, DOI: 10.1016/j.cub.2024.06.021
Kontakt
Dr. Erik Frank, Lehrstuhl für Zoologie III (Tierökologie und Tropenbiologie), Biozentrum, Universität Würzburg, erik.frank@uni-wuerzburg.de