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Biozentrum der Universität Würzburg

Das größte Genom aller Tiere entschlüsselt

14.08.2024

Ein internationales Forschungsteam hat die größten Genome aller Tiere – die von Lungenfischen – sequenziert. Die Daten helfen zu ergründen, wie den Vorfahren der Landwirbeltiere die Eroberung des Festlands gelang.

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Kein anderes Tier auf der Welt hat ein so großes Genom wie der südamerikanische Lungenfisch (Lepidosiren paradoxa). (Bild: Katherine Seghers / Louisiana State University)

Reisen wir zurück durch die Zeit! Wir befinden uns im späten Devon, etwa 380 bis 360 Millionen Jahre in der Vergangenheit. In einem flachen Uferbereich passiert gerade etwas, was das Leben auf unserem Planeten für immer verändern wird: Ein Fisch aus der Gruppe der Fleischflosser, zu deren Nachfahren die Lungenfische gehören, nutzt seine kräftigen, paarig an den Seiten angelegten Flossen, um sich aus dem flachen Wasser heraus an Land zu ziehen und über den schlammigen Uferboden zu bewegen. Dabei hat er keine Eile, ins Wasser zurückzukehren. Seine Atemorgane erlauben es ihm, problemlos an der Luft zu verweilen, denn dieser Fisch hat schon Lungen wie die heutigen Landwirbeltiere.

So oder so ähnlich könnte er sich abgespielt haben, der erste Landgang eines Wirbeltiers – und damit eines der wichtigsten Ereignisse der Evolution. Denn auf einen Fisch gehen alle späteren Landwirbeltiere – die sogenannten Vierfüßer (Tetrapoden) – zurück. Diese umfassen neben Amphibien, Reptilien und Vögeln auch die Säugetiere einschließlich des Menschen.

Doch ein Rätsel bleibt: Wie kam es, dass der Fleischflosser derart gut auf die Eroberung des Festlandes vorbereitet war?

Ein Blick auf die lebenden Verwandten

Um der Lösung dieses Rätsels nach all der Zeit auf die Spur zu kommen, wurde nun das Erbmaterial der nächsten heute noch vorkommenden Verwandten des Ur-Vierfüßers analysiert, um damit Rückschlüsse auf dessen Genausstattung und die darin verankerten Eigenschaften zu ziehen.

Nur drei Linien dieser Lungenfische gibt es heute noch; sie sind die nächsten noch lebenden Verwandten unseres gemeinsamen Vorfahren aus dem Devon. Die Evolution scheint sie vergessen zu haben, denn von diesen uralten „lebenden Fossilien“ gibt es nur noch eine Art in Australien, vier Arten in Afrika und eine Art in Südamerika, und sie sehen immer noch so aus wie ihre Vorfahren vor 100 Millionen Jahren.

Da unser Erbmaterial, die DNA, aus Nukleinbasen aufgebaut ist, in deren Reihenfolge die eigentliche genetische Information steckt, ist für eine solche Analyse vor allem die Kenntnis über die vollständigen Genomsequenzen der „lebenden Fossilien“ nötig. Es war bekannt, dass die Genome der Lungenfische riesig sind, doch wie gigantisch sie tatsächlich sind und was sich aus ihnen lernen lässt, war bisher nicht klar.

Da die Genome der Lungenfische zu den größten des Tierreichs zählen, war ihre Sequenzierung technisch und bioinformatisch aufwändig und kompliziert. Einem internationalen Forschungsteam unter Leitung des Würzburger Biochemikers Manfred Schartl und des Konstanzer Biologen Axel Meyer ist es nun erstmalig gelungen, das Erbgut des südamerikanischen Lungenfisches (Lepidosiren paradoxa) und eines afrikanischen Lungenfisches (Protopterus annectens) vollständig zu sequenzieren. Die bis dahin größte Genomsequenz des australischen Lungenfisches (Neoceratodus forsteri) war bereits zuvor vom gleichen Team sequenziert worden (Meyer et al. Nature 2021). Auch die Ergebnisse der aktuellen Arbeit sind nun in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Sehr, sehr groß – aber warum?

Insbesondere das Erbmaterial des südamerikanischen Lungenfischs bricht in Sachen Größe alle Rekorde: „Die DNA des südamerikanischen Vertreters ist mit über 90 Gigabasen (also 90 Milliarden Basen) das größte alle Tiergenome und mehr als doppelt so groß wie das Genom des australischen Lungenfisches. 18 der 19 Chromosomen des südamerikanischen Lungenfischs sind allein jeweils größer als das gesamte menschliche Genom mit seinen knapp drei Milliarden Basen“, sagt Schartl.

Verantwortlich dafür, dass das Lungenfischgenom im Laufe der Zeit auf diese enorme Größe angewachsen ist, sind sogenannte autonome Transposons. Das sind DNA-Abschnitte, die sich „vermehren“ in dem sie viele Kopien von sich herstellen, die dann ihre Position im Genom verändern und sich zumindest theoretisch unbegrenzt vervielfältigen können – was wiederum das Genom wachsen lässt.

Das passiert zwar auch in anderen Organismen, doch die Analysen des Forschungsteams haben ergeben, dass die Expansionsrate des Genoms des südamerikanischen Lungenfischs die mit Abstand schnellste bekannte ist: Alle zehn Millionen Jahre ist sein Genom in der Vergangenheit um die Größe des gesamten menschlichen Genoms gewachsen.

„Und es wächst weiter“, berichtet Schartl. „Wir haben Belege dafür gefunden, dass die verantwortlichen Transposons noch immer aktiv sind.“ Die Gruppe in Würzburg um die Bioinformatikerin Susanne Kneitz, Koautorin der Studie, fand den Mechanismus für dieses gigantische Genomwachstum heraus. Lungenfische haben im Gegensatz zu Tieren mit einer regulären Genomgröße einen extrem niedrigen Gehalt an piRNAs. Dieser Typ Ribonukleinsäuren ist wichtiger Teil eines molekularen Mechanismus, der die Ausbreitung von Transposons normalerweise begrenzt.

Trotz allem erstaunlich stabil

Dadurch, dass Transposons sich vermehren und im Genom herumspringen, können sie das Erbgut eines Organismus stark verändern und destabilisieren. Das ist nicht immer nachteilig und kann sogar eine wichtige Triebkraft von Evolution sein, denn manchmal verursachen diese „springende Gene“ auch evolutionäre Innovationen durch die Veränderung von Genfunktionen.

Umso erstaunlicher ist, dass in der aktuellen Studie kein Zusammenhang zwischen dem enormen Transposon-Überschuss und der Genom-Instabilität gefunden wurde – das Genom der Lungenfische ist also unerwartet stabil und die Genanordnung erstaunlich konservativ. Diese Tatsache erlaubte es dem Forschungsteam, aus den Sequenzen der heute noch lebenden Lungenfischarten das Erscheinungsbild des Chromosomensatzes (Karyotyp) des Ur-Tetrapoden zu rekonstruieren.

Zusätzlich ermöglichte ihnen der Vergleich der verschiedenen Lungenfischgenome Rückschlüsse auf die genetische Basis von Unterschieden zwischen den noch heute lebenden Vertretern.

Der australische Lungenfisch besitzt beispielsweise noch die gliedmaßenähnlichen Brust- und Bauchflossen, die es seinen Verwandten einst erlaubten, sich an Land zu bewegen. Bei den anderen heutigen Lungenfischvertretern aus Afrika und Südamerika haben sich diese im Knochenbau unseren Armen und Beinen ähnlichen Flossen im Laufe der letzten etwa 100 Millionen Jahre sekundär zu fadenförmigen Flossen entwickelt, die nicht mehr der Fortbewegung dienen können. „Wir konnten in unserer Studie auch anhand von CRISPR-Cas transgenen Versuchen mit Mäusen aufdecken, dass diese Vereinfachung der Flossen auf eine Veränderung des sogenannten Shh-Signalweges zurückgeht“, sagt Axel Meyer.

Da der Wissenschaft dank der neuen Studie nun die vollständigen Genomsequenzen aller heutigen Lungenfischarten zur Verfügung stehen, werden genetische Vergleichsstudien wie diese in Zukunft weitere Aufschlüsse über die fleischflossigen Vorfahren der Landwirbeltiere ermöglichen – und so dabei helfen, das Rätsel um den Landgang der Wirbeltiere zu lösen.


Faktenübersicht

  • Originalpublikation: Manfred Schartl, Joost M. Woltering, Iker Irisarri et al…A. Meyer (2024) The genomes of all lungfish inform on genome expansion and tetrapod evolution. Nature; doi: https://doi.org/10.1038/s41586-024-07830-1
  • Kontakt: Professor Manfred Schartl, Universität Würzburg; Tel. +49 931 31-84149, E-Mail : phch1@biozentrum.uni-wuerzburg.de und Professor Axel Meyer, Universität Konstanz; Tel. + 49 7531 88-4163, 88-3069; E-Mail: axel.meyer@uni-konstanz.de
  • Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und Next Generation Sequencing Kompetenznetzwerk (NGS-CN)

Von Gunnar Bartsch

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